Buchrezension
zu: Adolf Dresen, Wieviel Freiheit braucht die Kunst?
Reden, Briefe, Verse, Spiele 1964 bis 1999. Berlin:
Theater der Zeit Recherchen 3, 2000
In: Opernwelt 6/01, S. 62f. (zur
aktuellen Ausgabe)
Ein geistiger Arbeiter, der die Nase über den Tellerrand
seiner Welt zu Bohrtürmen oder in die Eisenverhüttung
vorschiebt, genießt unfehlbar den Bonus, 'etwas vom Leben zu
wissen', nicht im Elfenbeinturm der Hochkultur eingeschlossen
zu sein. In einer Zeit, da Theatersubventionen unter Mühen
gegen ihre anderweitige, scheinbar bürgernähere Verfügung
behauptet werden müssen, ist es ein geschickter Zug,
naturgemäß elitäre Betrachtungen über die Frage: 'Warum tötete
Hamlet Polonius?' mit einem griffigen Nachweis von
Bodenhaftung zu verbinden.
Dass diese Sphären nicht lächerlich
amalgamiert werden, sondern abgeschlossen nebeneinander
stehen, verdankt sich der Anlage des Buches als Abfolge
selbständiger Schriften und Reden aus mehr als drei
Jahrzehnten Theatertätigkeit des international anerkannten
Schauspiel- und Opernregisseurs. Adolf Dresen, zu Jahresbeginn
mit dem Lessingpreis des Landes Sachsen geehrt, versteht es je
nach Erfordernis des Kapitels, aphoristisch und mit Humor zu
berichten, spannend zu erzählen oder diskursiv seinen
Gegenstand zu erörtern.
Natürlich beackert Dresen allgemein als
bedeutungsvoll eingestuften Grund: In dem 1996 als Rede
entstandenen namensgebenden Kapitel "Wieviel Freiheit braucht
die Kunst?" führt ihn die These vom Rückzug des Theaters zu
Gunsten des Musicals oder schreiender szenischer Trivialität
zur Frage der Verstehbarkeit von Kunst und der Möglichkeit,
Nicht-Verstandenes vom Unsinn unterscheiden zu können.
Reflexionen über den Stellenwert des Genies, des Tabubruchs
und den Alterungsprozess des 'Modernen' führen zur
Feststellung einer Gleichwertigkeit des "Originalgenies" mit
dem "originalen Unsinn". Sie gipfeln in der Kritik
gegenwärtiger Theaterkritik: "Die alte Kritik hielt das Genie
für einen Dilettanten ... . Die neue Kritik aber hält den
Dilettanten für ein Genie ... . Jetzt hat auch der Scharlatan
seine Chance."
Solche Überlegungen lassen den Leser
unweigerlich an die seit Sokrates und Platon bekannte Klage
über den Verfall der Sitten denken: Weder sind die Zustände
wohl gar so schlimm, noch besonders neu. Schon im 19.
Jahrhundert wurden industrielle Einflüsse auf die Kunst, ihr
Warencharakter, ihr Niedergang im sinnlosen Tabubruch, ihre
marktschreierische Präsentation und das hilflose Mitwirken der
Kritik an dieser Apokalypse, die zwischen Virtuosentum und dem
Gesamtkunstwerk Wagners angesiedelt war, auf das heftigste
beklagt - wir leben noch, und die Kunst hoffentlich auch!
Am spannendsten sind die Texte da, wo Dresen
ohne ausufernde Inanspruchnahme der deutschen Philosophie über
sein persönliches Lernen und Entdecken spricht. Etwa in dem
Kapitel "Die Kunst des Scheiterns oder die Tücke des Objekts",
das am Beispiel von Proben zu einem Einakter von O'Casey sehr
anschaulich das ernste Problem behandelt, auf der Bühne
komisch sein zu wollen, oder im Kapitel "Alte Stücke lesen",
das jede Sinnhaftigkeit der Morde Hamlets abweist und gerade
darin den Sinn des Stückes ausmacht: "Hamlet ist ein Stück
über das Versagen von Vernunft."
Es ist auch die Formenvielfalt, die das Buch abwechslungsreich
macht. Briefe vermitteln das Gefühl fast voyeuristischer Nähe,
etwa angesichts einiger Bitten an Herbert Kapplmüller, den
Bühnenbildner der Wiener 'Ring'-Inszenierung 1992/93: "Z.B.
die Schmiede. Die muß stimmen: Herd, Amboß, Blasebalg - nicht
Computer oder solchen Blödsinn."
Von großer Anschaulichkeit sind zudem jene
Texte, die Dresens Wirken und Befinden in der DDR
reflektieren, eingeschlossen Briefe, die dokumentieren wie
sehr der Autor um sein Verhältnis zu dem Land rang, das er
1977 verließ, um in den Westen zu gehen. Zehn Jahre nach dem
Untergang der DDR vergleicht Dresen einen "Sozialismus mit
menschlichem Gesicht" mit Ikarus, der zwar gestürzt ist - "er
liegt aber nicht in seinem Blut, seine Flügel sind nicht
zerbrochen. Er liegt, als erinnere er sich des Fliegens, als
träume er noch davon. Vielleicht wacht er gleich auf und
öffnet die Augen?"
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Verdi
und Wolf-Ferrari - temporäre Zeitgenossen
in einer Periode des Übergangs
Programmheftartikel
in: Karlsruher Musiktage (Programmbuch). Italien vom 16. bis
20. Jahrhundert. 10. Juni - 1. Juli 2001, S. 95ff.
Verdis Quattro Pezzi Sacri und La Vita Nuova von
Wolf-Ferrari in einem Konzert - das ist die Begegnung des
Ungleichen und doch nahezu Gleichzeitigen. Beide Werke, zwischen
1895 und 1901 entstanden, entstammen ganz unterschiedlichen
Lebensstadien der Komponisten: Giuseppe Verdi (1813-1901) setzte
mit den Quattro Pezzi Sacri den Schlußstein auf den
Bogen seines Lebenswerkes. Er mußte nach Falstaff mit
seiner höchsten Verdichtung der musikalisch-dramaturgischen
Mittel nichts mehr beweisen - ja er schrieb die Stücke sogar
ursprünglich für die 'Schublade'. Ganz anders Wolf-Ferrari:
Ermanno Wolf-Ferrari (1876-1948) befand sich als junger
Komponist am Anfang seiner Karriere. Einen großen 'Treffer'
landete er beim Publikum erst ein Jahr nach Vollendung bzw. ein
Jahr vor der Bühnentaufe der Vita Nuova mit der
deutschen Erstaufführung seiner Oper Cenerentola 1902 in
Bremen (die Uraufführung 1900 in Venedig war ein kränkender
Mißerfolg gewesen). Hier scharrt ein junger Komponist förmlich
mit den Hufen. Und noch Jahre später wird er als bereits
erfolgreicher Opernkomponist eifersüchtig über die Gunst seines
Publikums wachen: "Wenn Strauss sich räuspert, weiß es alle
Welt. Ich kann noch so viel husten - das weiß niemand."
So verschieden sich die Lebensstadien des
hochgeachteten alten Verdi und des um Gunst erst buhlenden
jungen Wolf-Ferrari zur Jahrhundertwende darstellen, und so
kontrastreich reduzierte Mittel hier verschwenderischer
Entdeckerlaune dort gegenüberstehen: Beider Werke einigt die
Themenwahl - Liebe zwischen Erotik, Verehrung, Verlusterfahrung
und spirituell-religiöser Überhöhung.
Verdi kehrte mit seinen Quattro Pezzi Sacri zum
Ausgangspunkt seiner Laufbahn zurück, der Kirchenmusik. Er
verwendet in diesen Stücken zunächst religiös-poetisches
Allgemeingut (Ave Maria, Te Deum, Stabat Mater), ergänzt
diese Auswahl aber um die Laudi alla Vergine Maria aus Dantes
Paradiso, dem beschließenden Teil der Divina Commedia.
Im Unterschied zu seinem bekanntesten kirchenmusikalischen Werk,
dem durchaus opernhaften Requiem, löst Verdi hier
musikalisch seine Selbstwahrnehmung ein, "nicht mehr der Bajazzo
des Publikums" zu sein: In historisierender Strenge beschneidet
er die triumphale Geste selbst da, wo sie traditionell
legitimiert ist, im Te Deum. Solche Selbstbeschränkung
hindert ihn allerdings nicht, im Ave Maria eine
humorvoll als "kaputter Baß" apostrophierte "Scala Enigmatica"
von fremder Hand zu verwenden, deren 'falsche'
Intervallfortschreitungen und Monotonie des Auf- bzw. Abstiegs
von provozierender Wirkung sind. Die Vorbereitungen zur Pariser
Uraufführung im April 1898 (das Ave Maria wurde erst bei
späteren Aufführungen einbezogen) begleitete Verdi von Ferne
durch penible briefliche Anweisungen. Die Mühe wurde mit
sensationellem Zuspruch belohnt. Der junge Toscanini, der von
Verdi persönlich in die richtige Auffassung der Stücke
eingewiesen wurde, verhalf ihnen in Turin, ein Monat nach der
Uraufführung, mit 150 Chorsängern zu einem glänzenden Start auch
in der Heimat des Komponisten.
Wird man Verdi als genuin italienischen Komponisten, mehr noch:
als Komponisten italienischer Musik begreifen, so wurde die
Wahrnehmung Wolf-Ferraris durch seine deutsch-italienischen
Herkunft beeinflußt, eine Ambivalenz, an der er selbst sogar
litt. Die Entscheidung, seinen Lebensmittelpunkt nach
Deutschland zu verlegen, obwohl er in Italien aufgewachsen war
und dort auch (wohl bescheidene) Arbeitsmöglichkeiten hatte,
verdankt sich dem größeren Verständnis, das ein deutsches
Publikum seinen Werken entgegenbrachte. Wolf-Ferrari selbst
beurteilte die Umstände der Vertonung und Aufführung seiner Vita
Nuova im Zwiespalt seiner kulturellen Wurzeln. Er sah sich
gar genötigt, Richard Strauss rechtfertigend zu erklären, "daß
es nicht Feigheit ist, wenn ich eine 'Vita Nuova' auf Dantesche
Verse schreibe und dann ... in Deutschland verlege und übersetzt
in deutscher Sprache in Deutschland aufzuführen gedenke. Ich bin
vielleicht der einzige stammdeutsche [väterlicherseits deutsche]
Componist, der in der Lage ist das zu tun: aber in Italien sind
nicht einmal die Mittel zur Aufführung ... vorhanden, während,
was noch schlimmer, das Bedürfnis nach wirklich edler
musikalischer Kost nicht existiert ... ."
Daß zumindest das Bedürfnis nach der 'Kost'
Wolf-Ferraris in Italien zunächst begrenzt war, mag aber vor
allem an seiner musikkulturellen Prägung liegen: "... was die
Musik anbelangt, wußte ich lange Zeit kaum, daß es eine
italienische gibt; ich war ganz Autodidakt, kannte nur die
deutschen Meister!" Diese Tendenz unterstrich schließlich auch
das Studium bei Joseph Rheinberger in München. Freilich atmen
die Buffo-Opern, mit denen der Komponist vorübergehend
Weltgeltung erlangen sollte, durchaus italienische Luft; ebenso
wollen bereits einige Passagen der Vita Nuova, etwa die
Nr. 13, Canzone, die Wertschätzung der italienischen
Oper nicht verleugnen.
In erster Linie sind es aber eben, mehr oder
weniger eng gefaßt, deutsche Vorbilder, die offenhörbar der
Vita Nuova zugrunde liegen. In dem Bestreben, von der
Größe des zeitlos gültigen Werkes eines Nationaldichters zu
profitieren, wie auch in der musikalischen Verarbeitung des
Stoffs lassen sich Parallelen zur Faust- und zur Dante-Symphonie
Liszts wie auch zu den Faust-Szenen Schumanns erkennen.
Ebenso zeugt die Vertonung von einer bewußten Auseinandersetzung
mit den Bachschen Passionen, darüber hinaus auch mit dem Werk
Palestrinas, der nicht zuletzt durch die umfangreiche Leipziger
Edition seiner Werke (1862-1903) eine sehr gegenwärtige
Bezugsgröße darstellte. Die Wahl einer Dichtung Dante Alighieris
(1265-1321) lag schließlich auch durch einige italienische Opern
mit einem gerne verwendeten Sujet aus der Divina Commedia
(Francesca da Rimini), das etwa auch Tschaikowskys Phantasie
op. 32 zugrunde liegt, nahe.
Dantes Jugendwerk La Vita Nuova ist
thematisch mit der erst in seinen letzten Lebensjahren
vollendeten Divina Commedia durch die Huldigung an
Beatrice verbunden, deren Figur sich einer jung verstorbenen
Jugendliebe des Dichters verdankt. Die Vertonung gliedert die
verwendeten Canzoni in zwei Teile. Der erste führt in die
Situation einer unaussprechlich großen Liebe ein, die wahnhafte
Verlustängste geradezu gebären muß. Der zweite Teil berichtet
Beatrices Sterben und ihre Aufnahme in die himmlischen Sphären.
Der Einsicht, nicht würdig über diese Liebe sprechen zu können,
folgt selbstauferlegtes Schweigen. Die Hoffnung, Beatrice im
Tode wiederzusehen, beschließt das Werk. (Es sei hier ergänzend
angemerkt, daß Dante diese Hoffnung zum Ende des Purgatorio
seiner Divina Commedia positiv bescheiden wird. Der Held
(Dante selbst) muß bei dieser Gelegenheit allerdings
feststellen, daß den Huldigungen der Vita Nuova kein
Glaube geschenkt wurde, - Beatrice: "... kaum trat ich ins ewige
Leben ein, verließt du mich und gabst dich andren Frauen. ... Du
fielst so tief, daß alle Mahnungen zu deinem Heile unzulänglich
wurden. Sage du, ist's wahr, was ich gesagt. Was denkst du?"
Dante: "Ja." -, das Verstummen aus hehrer Demut wird so auf
simples Vergessen reduziert.)
Die extrem heterogenen musikalischen Mittel
der Vertonung - sie changieren zwischen italienisch opernhafter
Geste an der Grenze zur Überspanntheit und asketischem Choral -
folgen unmittelbar dem Textinhalt. Die Musik wirkt auf diese
Weise besonders lebendig, ja sprechend! Beatrice's Tod etwa
beginnt mit einer in Bässen, Orgelpedal und Paukenwirbel
gehaltenen, nur durch eine leere Quinte ergänzten Oktave, -
einer Fermate, die so lang gehalten werden soll, "dass sie auf
den Hörer den Eindruck gespannter Erwartung hervorbringt." Es
folgen von explizit rezitativischen Soli unterbrochene, sich
fortschleppende und immer wieder im Stillstand verharrende
Streicherakkorde (die Magie liegt hier in der Reduziertheit der
Mittel bei gleichzeitig exzessiver Agogik). Die Musik kommt
schließlich in einer "langen, sprechenden Pause" zum völligen
Einhalt. In die ins Extrem gesteigerte Erwartung tönt das,
ursprünglich harmonisch unkomplizierte, Liebesmotiv vom Schluß
des Prologs - jetzt nurmehr eine dissonant schmerzlich-schöne
Reminiszenz.
Wenn in Wolf-Ferraris Kompositionen Vorbilder
gegenwärtig sind, so mag dies manchen befremden. Es ist indes
nicht leicht, zwischen assoziativer Anverwandlung und Imitation
aus Mangel an Identität zu unterscheiden. Diese Entscheidung
nicht durch eine offensive Selbstpositionierung zu seinen
Gunsten erzwungen zu haben, mag der Auslöser dafür sein, daß ein
Künstler, der einst zu den fünf meistaufgeführten
Opernkomponisten der Welt zählte, in nahezu völliges Vergessen
stürzen konnte. Wolf-Ferrari versuchte zu bewahren und wollte
nicht dem radikal Neuen um eines als verbissen empfundenen
Fortschritts willen huldigen. Seine Philosophie des Komponierens
läßt sich wohl in einer Analogie zu seiner Wahrnehmung
insbesondere der Musik Wagners erhellen: "Es ist nicht wahr, daß
die größten Meister ... vor allem neue Klänge erfunden hätten:
Ihre Hauptkraft war jene, die man die erneuernde nennen könnte,
wodurch sie fähig wurden, uns die allereinfachsten harmonischen
Beziehungen ... als neu empfinden zu lassen ... ."
Wie auch immer die folgende Generation das
Werk des Deutsch-Italieners beurteilen sollte: Mit La Vita
Nuova traf der Komponist den Nerv des Münchner Publikums,
das dieses Werk mit der Uraufführung im März 1903 auf eine,
wenigstens vorübergehend, glänzende Bahn schickte.
Verdi und Wolf-Ferrari, unter verschiedenen Vorzeichen temporäre
Zeitgenossen in einer Periode des Übergangs, sind sich einmal
persönlich begegnet - mit mäßigem Erfolg: "Von meinem Besuch
Giuseppe Verdis im Jahre 1898 kann ich leider wenig sagen, da
das einzig Interessante das war, daß der großartig aussehende
Alte von 84 Jahren ... wirklich Verdi war. Denn gesagt hat er
nichts, das mich aus irgendeinem anderen Grunde interessiert
hätte. Von Musik kein Wort."
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Zwischen Drama und Fernsehballett
Kritik
zur Uraufführung von Gisle Kverndokks Musical Vincent van
Gogh bei den Ettlinger Schlossfestspielen
In: Opernwelt 11/01, S. 70 (zur
aktuellen Ausgabe)
Die Kompromisslosigkeit, mit der Vincent van Gogh (1853-1890)
seine Berufungen und Passionen verfolgte, bietet in jeder
Ausprägung einen musikdramatisch hervorragend geeigneten
Bühnenstoff. Und schon vor Oystein Wiik, dem Librettisten des
Musicals «Vincent van Gogh», das mit der Musik von Gisle
Kverndokk bei den Schlossfestspielen Ettlingen aus der Taufe
gehoben wurde, erfuhr der Maler seine Auferstehung als
Bühnengestalt.
In der Personalunion von Librettist und
Komponist bewiesen etwa Rainer Kunad («Vincent», Dresden 1979)
und Einojuhani Rautavaara («Vincent», Helsinki 1990) die
Tauglichkeit des Sujets für die Verbindung von Szene und Musik.
Dieselbe Aufgabe mehrfach zu lösen war indes immer schon eine
Natur der Oper und wirkt nicht zum ersten Mal auf das Musical
als ihren modernen Ableger fort.
Das schöpferische norwegische Team (1998
erblickte bereits das Musical «Sofies Welt» das Licht der Bühne)
bezieht sich mit Verstand auf zentrale Themen in Van Goghs
Leben: auf die arbeitsintensive Entwicklung von Malhandwerk und
-stil, religiöses Eifern und Sendungsbewusstsein, die
scheiternden Beziehungen zu Frauen, den von steten Spannungen
belasteten Umgang mit Eltern und Mitmenschen.
Dass bei der szenischen Einbindung
exemplarischer Lebenssituationen in einen biographischen Fluss
manches zeitlich und örtlich verschoben wird, soll dem Stück
nicht zum Vorwurf gemacht werden. Über den Abend spannt sich ein
intelligent zwischen Tiefgang und unterhaltsamem Aktionismus
changierender Lebensbogen, der bei Van Goghs Tätigkeit als
Kunsthändlergehilfe in London einsetzt und mit seinem Freitod
endet. Gleichsam als Prolog vorgeschaltet vergegenwärtigt eine
Auktionsszene heutiger Tage den unmöglich zu überschätzenden
kulturellen und materiellen Wert, den das Werk des zu Lebzeiten
vollkommen von den Zuwendungen seines Bruders Theo abhängigen
Malers dieser Tage besitzt.
Der Hauptdarsteller - Oystein Wiik singt und
spricht den von ihm geschriebenen Text in der recht glücklichen
Übersetzung von Siegfried Weibel - beraubt sich durch sein
mühsames Deutsch selbst der Möglichkeit, die darstellerische
Intensität auch in die richtige Textdeklamation zu übertragen.
Stimmlich präsentiert sich Wiik als Charaktertenor von zarter
Eindringlichkeit, der den schwärmerisch-lyrischen Impetus der
'Hits', «Wahre Liebe kommt auch ohne großen Schwur» (stilistisch
ein Eigentor des Übersetzers) und «Zitronell' und Tamarind'»
durchaus zu bedienen vermag.
Gisle Kverndokk stellt unter Beweis, wie
wohldisponiert er in der Lage ist, Soli und Ensembles noch in
der Abfolge und Kombination musikalisch disparater Elemente
sicher zu einem Ganzen zu fügen. Über weite Strecken aber hören
wir Stilkopien aus Musicals der letzten 80 Jahre. Musikalisch
und dramaturgisch hingegen gelungen ausgestaltet sind die
zwischenmenschlichen Konflikte.
«Vincent van Gogh» balanciert erfolgreich auf
jenem Grad, der gegenüber der Oper als (häufig genug
zweifelhaftes) Privileg der Gattung Musical eingeschätzt werden
darf: noch dem tragischen Sujet bei aller Ernsthaftigkeit die
Auflockerung durch völlig unverbrämte (genaugenommen
dramaturgisch sinnlose), reine Unterhaltungsszenen nicht zu
verwehren. Der Vorstellungsbesucher begegnet einer historischen
Figur ebenso, wie ihm überindividuelle Situationen von Leid,
Scheitern und Verlust glaubwürdig vermittelt werden; und doch
fühlt er sich nicht belehrt, weil er ausgezeichnet unterhalten
wurde.
Zu wünschen ist dem Bühnenneuling die
glückliche Bahn, die das Vorgänger-Musical der Norweger schon
genommen hat: «Sofies Welt» geht gegenwärtig in Tokio und Rio de
Janeiro in Szene. Für «Vincent» wird man vorerst wohl nicht so
weit fahren müssen: Für 2002 ist anlässlich der
Van-Gogh-Ausstellung in Bremen eine Aufführungsserie in der
«Glocke» geplant; wer die Heimat des schöpferischen Teams
besuchen möchte, wird das Stück (dann natürlich in Norwegisch)
im nächsten Jahr auch in Oslo erleben können.
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