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Geteilter Genuß - «Norma» konzertant in Essen

Kritik zur konzertanten Aufführung von Vincenzo Bellinis Norma im Aalto-Theater Essen
In: Orpheus 10/2002, S. 18f. (gekürzt abgedruckt, nachstehend vollständig wiedergegeben / zur aktuellen Ausgabe)

Fand Norma bei ihrer Uraufführung 1831 an der Mailänder Scala ein geteiltes Echo, dessen unfreundlichen Anteil der Komponist auf "eine starke Clique, die mir feindlich gesinnt war" zurückführte, so muß sich dieser Tage vor allem die Abendbesetzung beweisen - Bellinis Oper ist längst etabliert, ja genießt als exorbitante sängerische Herausforderung Kultstatus. Um so mehr stellt eine konzertante Aufführung eine Herausforderung dar, liegt die Aufmerksamkeit doch ausschließlich auf den vokalen Leistungen, die durch keinen szenischen Ausdruck beeinträchtigt, von diesem aber auch nicht bemäntelt werden können. Die größten Erwartungen knüpften sich im Aalto-Theater zweifellos an  L u a n a  D e V o l  (in Essen jüngst als Färberin in Die Frau ohne Schatten zu erleben), die sich im hochdramatischen Fach nicht zuletzt als Brünhilde (u.a. in Bayreuth) Meriten erworben hatte. Was in der Partie der Brünhilde weniger störend ins Gewicht fällt oder als Mangel gar nicht zutage treten kann: ausladendes Vibrato und ungenaues Meistern virtuoser Passagen, beeinträchtigt den Genuß bei Norma hingegen empfindlich. So sehr Frau  D e V o l  eine spürbare Identifikation mit der Titelrolle selbst unter Konzertbedingungen zugestanden werden muß - stimmlich ist sie keine angemessene Norma. Vor allem die Koloraturen im ersten Akt gerieten sämtlich zum ins Ungefähre zielenden Ärgernis. Ruhigere Passagen waren, obschon in allen Lagen sicher bewältigt, von sich ankündigendem Metall der Überbeanspruchung getrübt. Der erste Höhepunkt und Publikumsfokus «Casta Diva» offenbarte diese Mängel bereits zu Beginn des Abends deutlich.  S t e f a n  S o l t e s z  erschwerte seiner Protagonistin hier zudem eine souveräne Gestaltung mit seiner Tempowahl, die kein Sänger der Welt ohne implantierten Blasebalg streßfrei hätte ausfüllen können. Festzuhalten bleibt jedoch, daß Norma eine Figur mit Schicksal ist, und man wird nur in absoluten Ausnahmefällen (Callas) erwarten dürfen, daß eine Sängerin und hervorragende Musikerin in der Lage ist, dieses Schicksal zu vermitteln, ohne auf das der eigenen Stimme unfreiwillig verweisen zu müssen. Von Herzen hätte man Frau D e V o l, die immerhin, soweit in diesem Sängern sehr zuträglichen Theaterbau überhaupt feststellbar, über eine große Stimme verfügt, ein Gegengewicht im männlichen Part gegönnt, - doch blieb sie auf sich allein gestellt: Der permanent unglücklich besetzte  J e f f r e y  D o w d  (völlig unzureichend als Lohengrin, Kaiser und Cavaradossi) enttäuschte auch als Pollione mit kleiner und überanstrengter, mitnichten heldischer Stimme. Das Beharren auf einer eindimensionalen, von der Psychologie der jeweiligen Rolle unbeeinflußten gesanglichen Gestaltung, der ungenaue Fokus der Stimme nebst Intonationsproblemen bei zusätzlicher Abwesenheit jeden Legatos verderben dem Zuhörer die Hingabe an die Musik. Zu wünschen wäre  D o w d  eine regenerative Auszeit bei gleichzeitiger Besinnung auf sein angestammtes, lyrisches Fach. Durchaus vorteilhaft präsentierte sich hingegen  V i k t o r i a  V i z i n, die Adalgisas Lieb' und Leid mit runder, beweglicher, jugendlich frischer, wenn auch für die Partie etwas zu leichter Stimme zu Herzen gehend vermittelte.  M a r c e l  R o s c a  verlieh Oroveso stimmgewaltig männliche Verve, verfiel aber, sicher wohlmeinend, ins unschöne Rufen. Der stimmlich blasse  H e r b e r t  H e c h e n b e r g e r  (Flavio) und der unausgeglichene, recht harte Sopran von  A s t r i d  K r o p p  (Clotilde) waren unter Berücksichtigung der bescheidenen Rollengröße an diesem Abend weder ein Gewinn noch ein wirkliches Ärgernis.  S t e f a n  S o l t e s z  wird man nicht nachsagen wollen, daß er die italienische Oper im Blut hat: Mit überzogen langsamen Tempi, musikalisch unidiomatisch verschleppten oder gehetzten Chören und - in den Introduktionen am auffälligsten - bemüht wirkender Agogik wurde er der Musik nicht gerecht. Dennoch: Die Essener Philharmoniker musizierten unter seiner Leitung kultiviert und klanglich ausballanciert. Die äußerst heikle syntaktische Verklammerung der großen Duette mit ihrer Vielzahl von Stimmungswechseln und Neuansätzen gelang ihm vorbildlich. Der Chor präsentierte sich von  A l e x a n d e r  E b e r l e  sauber einstudiert und beeindruckte sowohl mit voluminösem Aplomb als auch durch ängstlich-sensible Zartheit - bedrückend gelungen etwa das kollektive Erschrecken über das Schuldbekenntnis Normas. Der Abend wurde vom Publikum mit begeistertem Applaus aufgenommen.

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Durch Intrige zur Liebe

Kritik zur Inszenierung von Hector Berlioz' letzter Oper Béatrice und Bénédict im kleinen Haus des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen
In: Orpheus 10/2002, S. 19 (gekürzt abgedruckt, nachstehend vollständig wiedergegeben / zur aktuellen Ausgabe)

Wo läßt ein Regisseur die Sänger agieren, wenn die komplette Bühne durch das Orchester besetzt ist? Im Orchester natürlich. So geschehen in der Inszenierung von Berlioz' letzter Oper Béatrice und Bénédict im kleinen Haus des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen. Im Unterschied zu Lorenzo Fioronis Münsteraner Ansiedelung von Cosi fan tutte im auf der Bühne getreulich nachgebildeten Orchestergraben blieb Immo Karaman platztechnisch wirklich kaum anderes übrig: Er mußte die Handlung ins Orchester verlegen und die Sänger als Orchestermusiker einführen. Daß aus echter Not auch echte Tugend erwachsen kann, diesen Beweis konnte er in Gelsenkirchen zur, es sei vorweggenommen, großen Freude des Publikums wohl führen. Zu erleben war bei Karaman zunächst das mehr oder weniger wohlwollende Miteinander innerhalb der bekannt heterogenen Gruppe der Orchestermusiker und Choristen während eines normalen Probentages. Die eigentlich spritzige Ouvertüre wurde von der Neuen Philharmonie Westfalen unter den inszenierten (und sehr berechtigten - "mehr Leichtigkeit!") Zwischenrufen von Samuel Bächli wenig luzide musiziert. Daß es sich hier nicht ausschließlich um die beabsichtigt realistische Darstellung einer alltäglichen Probe handelte, wußte, wer im letzthin im großen Haus in Szene gegangenen Liebestrank miterlebt hatte, wie eine witzige, luftige Musik durch verschleppte und inflexible Tempi nebst einem kompakten, schlecht intonierten Orchesterklang Sängern und Zuhörern zur Marterstrecke ausgebreitet wurde. Im Unterschied zu seinem Kollegen Bernhard Stengel bei Donizetti unterstütze Bächli seine Sänger allerdings mit angemessenen, beweglichen Tempi und ermöglichte ihnen die einwandfreie Bewältigung sowohl großer Koloraturarien - bravourös, wenn auch sehr vibratoreich Noriko Ogawa-Yatake in der Eingangsarie der Hero - als auch liedhafter Formen: von rührender Zartheit Heros und Ursules (Anna Agathonos) Duo-Nocturne zum Ende des ersten Aktes. James McLean bestach zuvorderst durch seine perfekte Einfühlung in die Rolle des nervös-verklemmten Kontrabassisten Bénédict, der durch wohlwollende Intrige zur Liebe mit der Oboistin Béatrice erst hingestoßen werden muß. Daß sein lyrischer Tenor obschon von einheitlicher und ermüdungsfreier Beherrschung aller Lagen beständig belegt klang, bedeutete einen bedauernswerten Abstrich am vokalen Genuß. Anke Sieloff überzeugte hingegen sowohl szenisch als zickigst mögliche Xanthippe in spe wie auch gesanglich mit einem allen Anforderungen gewachsenen forschen Mezzo. Der Schlußapplaus bestätigte ihre herausragende Leistung in einer Partie, über die Berlioz selbst urteilte: "Die Beatrice zu spielen, bedarf es einer Frau von großem Charakter". Erin Caves als Claudio und Nicolai Karnolsky als Don Pedro hatten wenig, der versierte Spaßmacher Joachim Gabriel Maaß als Somarone praktisch keine Möglichkeit, ihre Stimmen nennenswert unter Beweis zu stellen. Sie fungierten ihren Partien angemessen im Wortsinne als supporting actors einer Handlung, die sie als Typen anlegt, während einzig die beiden Hauptpersonen eine Entwicklung erfahren - jene von Beziehungsskeptikern zu glühend Verliebten und schließlich Bindungswilligen. Karaman folgte Tim Alberys Amsterdamer Inszenierung des Vorjahres in der Ergänzung der Belauschungsszene unter den männlichen um eine genaue Parallele unter den weiblichen Akteuren, verzichtete aber im Interesse gebotener Kurzweil auf textliche Erweiterungen unter Zuhilfenahme der Shakespeareschen Vorlage «Viel Lärm um nichts». Die Verlegung, ja Entwurzelung der Szene - das soll bei aller Wertschätzung der Inszenierung nicht verschwiegen werden - bringt natürlich unauflösbare Probleme mit sich bzw. läßt sich keineswegs glaubhaft durchhalten. Kann der Eingangschor "Der Mohr ist bezwungen" noch als Probensituation glaubhaft gemacht werden, so löst sich die Handlung sowohl durch die getreue Übersetzung von Wulf Konold und Dagny Müller (etwa: "Was genau meint ihr, Herrin?" oder: "Euer Antlitz leuchtet vom Glanz des Sieges!") als auch durch das wirklichkeitsferne, pausenlose Herumturnen im Orchesterproberaum von den gewählten Grundparametern der Szene: musikalische Probe, Rivalitäten unter Musikern. Dies soll dem Regisseur jedoch ohne Zögern nachgesehen werden, denn er versucht nicht, diesen Bruch zu verschleiern, sondern spielt damit: Niemand wird ernstlich vermuten, daß Musiker sich gegenseitig an einen Kontrabaß gefesselt in den Schnürboden ziehen ... - also alles cum grano salis. Dieses Augenzwinkern wurde vom Publikum gerne aufgefangen, denn alle Mitwirkenden, eingeschlossen der Dirigent - real und auf der Metaebene als Leiter der inszenierten Probe - waren mit Feuereifer und szenischem Witz bis zum Schluß dieses zweieinhalbstündigen Vergnügens bei der Sache. In das summarische Lob ist auch der Chor einzubeziehen, der ein Panorama glaubhafter Einzelpersönlichkeiten entstehen ließ und auch musikalisch mit Ironie und Freude je nach Erfordernis der Szene den Gesangsverein der Nachbarkneipe oder einen vorbildlich kultivierten Klangkörper gab - Empfehlung: Reingehen!

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Giovanni im Jugendclub

Kritik zur Inszenierung von W. A. Mozarts Don Giovanni  im Rahmen der RuhrTriennale, Festspielhaus Recklinghausen
In: Orpheus 12/2002, S. 42 (zur aktuellen Ausgabe)

Von ganz eigenem Reiz ist es, wenn das in Liebe, Begehren und Haß miteinander verbundene Personal von Don Giovanni wirklich im heiratsfähigen Alter ist: Selten waren Zerlina (Maria Fontosh) und Donna Anna (Maria Bayo) so jugendlich-begehrenswert, war Don Giovanni (Stéphane Degout) so juvenil-triebgesteuert und Masetto (Markus Butter) so verzweifelt eifersüchtig wie in Klaus Michael Grübers Inszenierung anläßlich der diesjährigen RuhrTriennale. José Fardilha gab im Ruhrfestspielhaus Recklinghausen als Leporello glänzend den Conferencier des Abends, ohne ins sonst häufig zu beklagende Klamottenhafte zu verfallen - wie auch Donna Elvira (Catherine Naglestad) gekonnt vermied, ihre Düpiertheit der Lächerlichkeit preiszugeben oder ihre Rage in Hysterie umschlagen zu lassen. Toby Spence verlieh Don Ottavio über dessen bekannt wortreiche Tatenlosigkeit hinaus eine berührend somnambule Aura. Diesen Eindruck unterstützte, wenn auch unbeabsichtigt, die Zartheit seiner lyrischen Stimme. Zweifellos wächst mit diesem jungen Tenor eine schöne Hoffnung für die Partie heran - doch überfordert sie ihn augenblicklich noch. Bayo, die sich ihren großen Arien mit jener unverspannten Konzentration zuwandte, die sich magisch auf das Publikum überträgt, sowie Fontosh und Naglestad umgarnten Mitspieler und Publikum mit geschmeidigen, nuancenreichen Stimmen von in Ansätzen jugendlich-dramatischer bis soubrettenhafter Prägung. Degout glänzte mit erotisch-irisierendem Kavalierbariton, Fardilha mit blendend fokussiertem Buffotimbre, während Butter sich stimmlich durchaus als Anwärter auf das seriöse Fach präsentierte. Masettos Eifersucht wurde so dankenswerterweise die häufig erlebbare Nähe zur albernen Empörung des Dorfdeppen genommen. Wenn Hans Zender am Pult des ebenso disziplinierten wie klangschönen paneuropäischen Mahler Chamber Orchestras Don Giovanni mit präziser Wucht schließlich in den Orkus schickt, dann glauben wir Anatoli Kotschergas majestätischer Baßgewalt, daß der reulose Sünder dem Händedruck des Komturs nicht anders als tot entrinnen kann.
   Grübers Inszenierung in den Bildern Eduardo Arroyos und den Kostümen Rudy Sabounghis suchte nicht, die disparaten Sphären, Schmerz und Schrecken neben Komik und Ausgelassenheit, zu versöhnen. Er akzeptierte den Kontrast und betonte ihn lustvoll - das Publikum folgte ihm gerne.

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Operngeschichte en miniature

Buchrezension zu: Elisabeth Schmierer, Kleine Geschichte der Oper bei Reclam, in: Opernwelt 2/2003, S. 27  (zur aktuellen Ausgabe)

Lässt sich auf knapp 300 Seiten eines Reclam-Heftes die abendländische Operngeschichte sinnvoll zusammendrängen? Wenn sie von einer ausgewiesenen Kennerin des Genres mit der Präzision der gelernten Wissenschaftlerin bei gleichzeitiger Einsicht in notwendige didaktische Reduktion zusammengefasst wird, lautet die Antwort unumwunden: ja! Elisabeth Schmierer, die bereits 1999 an der «Operngeschichte in einem Band» bei Henschel mitwirkte und auch das jüngst erschienene «Lexikon der Oper» im Laaber-Verlag verantwortet, geht es in ihrer bereits 2001 herausgebrachten «Kleinen Geschichte der Oper» insbesondere um die Vermittlung von Zusammenhängen, die jede Geschichte abseits bloßer Koinzidenzen und Abfolgen als Entwicklung erst nachdrücklich verständlich machen.
    So werden vier Jahrhunderte Oper bis zur Jahrtausendwende erzählend in ihrer Kausalität analysiert. Eine narrative Struktur […] verbindet sich mit klar positionierter Analyse: Wer nicht nur wissen will, wer sich etwa beim Buffonistenstreit mit wem vordergründig worüber stritt, sondern Zusammenhänge, Hinweise auf übergeordnete politische Aspekte, auf Parallelen in den anderen Künsten und die punktuelle Veranschaulichung ästhetischer Sachverhalte an konkreten Werken schätzt, der wird diesen Reclam-Band nicht missen wollen. Wie nebenbei erschließt sich bei der Lektüre auch das reiche Fachvokabular der Oper: Comédie en Vaudeville, Risorgimento, Verismo, Zeitoper - alles böhmische Dörfer? Die gelungene Vernetzung der Informationen in ihren kausalen Beziehungen erleichtert auch dem nichtfachmännischen Leser die Aufnahme spezieller Termini.
   Die vielfach zu konstatierende Achillesferse gedruckter Musikgeschichte, die Beschreibung und ggf. Bewertung neuester Entwicklungen, offenbart jedoch auch in diesem Band eine Schwachstelle. Die Souveränität der Darstellung, der jeweils klar umrissene analytische Fokus bis zum letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts scheint in den Kapiteln zu den beschließenden 30 Jahren Operngeschichte einer nur verbrämt gewichteten, eher aufzählenden Reihung und einer nicht unbedingt zwingenden Bemessung in der Ausführlichkeit von Beispielen gewichen. Summa summarum: Der für die Westentasche geeignete und mit gut sieben Euro sehr erschwingliche Band gehört in den Besitz des auf konzentrierte Auffrischung bedachten Fachmannes ebenso wie in den eines jeden Theaterbesuchers, der im Zuschauerraum verstehen will, wie ihm geschieht, und im Foyer mit seiner Einsicht in die Beziehung des Erlebten zum mehrhundertjährigen Ganzen glänzen möchte.


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